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Zum Tag der Muttersprache

Ich habe meine Muttersprache nie gelernt. Meine Mutter, eine Alleinerziehende in den 90ern der Türkei, weit weg von ihrer Familie, die sie mit 15 Jahren in die Türkei verheiratete, hatte Angst. Sie hatte Angst, mir Kurdisch beizubringen, denn damals schon war das ein Grund, Menschen zu töten. Weil sie Kurdisch sprachen oder kurdische Musik hörten.

Ich bin in der Türkei geboren und aufgewachsen. Also die Antwort zu der Frage „Wo kommst du her?“ lautet für mich: Aus der Türkei. Deshalb werde ich in der Regel gleich für eine Türkin gehalten, obwohl die türkische Gesellschaft eine Multiethnische ist, und muss korrigieren: „Ich bin Kurdin.“ Dabei kann ich noch nicht einmal Kurdisch. Was macht mich überhaupt zu einer Kurdin? Das kann ich euch nicht sagen.

Eins kann ich euch aber mit Sicherheit sagen, und zwar was das mit mir macht, meine Muttersprache nicht sprechen zu können. Was ich fühle.

Scham. Ich schäme mich. Nicht gegen die repressiven Türkisierungspolitik rebelliert zu haben. Mich nicht an einen so wichtigen Teil meiner Identität festgehalten zu haben.

Und Schuld. Ich fühle mich so, als hätte ich mich selber verraten. Und alle Kurd*innen, die sich für ihre Existenzberechtigung einsetzen. Und für meine.

Als ich Kind war und meine Großeltern aus Deutschland zu Besuch kamen, sprachen sie unter einander oft Kurdisch. Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich hörte, dass sie eine andere Sprache sprachen und meine Mutter fragte, was das denn sei. Sie sagte: „Es ist Kurdisch.“ Und ich dachte, nein, das kann nicht sein. Wir sind doch keine Kurd*innen.

Wisst ihr, ich wusste bis dahin nicht, dass Kurd*innen einfach normale Menschen sind, und hätte auch nicht wissen können. Ich denke, wenn man nicht in einer Atmosphäre aufwächst, in der tagein tagaus Beerdigungen von von PKK getöteten Soldaten in Nachrichten gezeigt werden, mit trauriger Musik im Hintergrund, Eltern, die sich mit dem Schmerz ihres Verlusts schreiend am Boden wälzen, und dir dabei jedes Mal eingetrichtert wird, dass die KURDEN schuld dafür seien, dass türkische Jugendliche sterben, kann man das nicht verstehen. In einem Land, in dem „Kurde“ als Schimpfwort verwendet wird.

Meine Oma sagte mir kurz darauf: „Wir sind keine Kurden. Erzähl so einen Unsinn nicht herum.“ Auch sie hatte Angst, sowie meine Mutter.

Vielleicht klingt das irgendwie abenteuerlich, ein Geheimnis zu haben. Das ist aber nicht nur unschön, sondern das macht auch was mit dir, was Gravierendes. Mit deinem Selbstverständnis. Mit deinem Selbstwertgefühl. Mit dem Gefühl der Zugehörigkeit, das du so sehr brauchst, um dich sicher zu fühlen. Ja, eben mit dem Gefühl der Sicherheit.

Die ganzen Vorteile davon, multilingual aufzuwachsen, hin oder her. Einem Menschen mit Druck, Erpressung, Unterdrückung und Diskriminierung die Muttersprache wegzunehmen nimmt diesem Menschen viel mehr weg als das Auge fassen kann. Ich bin zwar unter anderen Bedingungen aufgewachsen, aber auch hierzulande gibt es den Druck, den viele spüren, deren Muttersprache nicht eine ist, die in Europa gesprochen wird. Auch hier führen gewisse Sprachen, beispielsweise Türkisch oder Arabisch, eher zum Nachteil für jene, deren Muttersprache sie sind. Das muss sich ändern.

Dass in einem Land viele unterschiedliche Sprachen gesprochen werden, müsste eigentlich gefeiert und gefördert werden. Dass viele Menschen zuhause eine andere Sprache sprechen als Deutsch sollte als Bereicherung betrachtet und unterstützt werden. Dass etwas, was wertgeschätzt werden sollte, eher zur Diskriminierungen führt und regelmäßig zum Politikum wird, ist ein Armutszeugnis für das betroffene Land.

In dem Sinne: Deutschland, lass deine Kinder ihre Muttersprache sprechen und bekämpfe lieber ihre Diskriminierung. Sorge dafür, dass Menschen keine Angst mehr haben, ihre Muttersprache auf ihren Lebenslauf zu schreiben. Schütze ihre Freiheit, die Sprache ihrer Eltern und Großeltern zu sprechen.

Und von mir noch viele liebe Grüße an alle, die ihre Muttersprache nicht lernen durften oder konnten, und es jetzt, so wie ich, nachholen: Ihr seid nicht allein.

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